Unter L wie Lethen
Kriegsschiffe in Riga, Patroullienboote an der Kurischen Nehrung zur Grenze nach Kaliningrad und lange Militärkonvois in Estland haben auf unserer Reise durch die baltischen Länder ein beunruhigendes Gefühl hinterlassen. Wie passt das zusammen mit meiner Begeisterung für russische Literatur und besonders für Dostojewski? Habe ich einen Roman von ihm in der Hand, kann ich nur schwer aufhören zu lesen. „Die Brüder Karamasow“ las ich während meiner ersten Schwangerschaft. Mein Sohn musste unweigerlich Dimitri heißen. Auf die Spur brachte mich das Buch „Der Sommer des Großinquisitors“ von Helmut Lethen, der über die Faszination des Bösen schreibt. Ich las es auf unserer Fahrt durch Litauen.
In Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ erzählt der atheistische, aufgeklärte Iwan dem frommen jüngsten Bruder Aljoscha die Legende vom Großinquisitor, der Jesus als Ketzer verhaften lässt. Im Verhör, das er als Monolog führt, macht er ihm den Vorwurf, er störe die Ordnung der Katholischen Kirche, deren Macht auf Wunder, Geheimnis und Macht gegründet sei. Die Menschen müssten geführt werden wie eine Herde. Jesus als schwächlicher Rebell müsse auf den Scheiterhaufen, um der Ruhe und Ordnung wegen.
Lethen schreibt, wie sich Schriftsteller, Philosophen, Künstler und andere Persönlichkeiten mit der Figur des Großinquisitors auseinandergesetzt haben. Diese Figur sei, so Lethen, durch die Negation jeglicher Moral ein Erfolgsbild für autoritäre Herrschaft und diene manchen späteren Autoren als Rechtfertigung hierfür. So kursiert „Die kurze Erzählung vom Antichrist“ des Dichters und Philosophen Wladimir Solojow u.a. in Kreisen der Neuen Rechten. Dem deutschen Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt verhalf dieses Erfolgsbild nach Hitlers Machtergreifung zu einer Karriere im NS-Regime.
Die Inhalte des Essays haben mich lange gedanklich in Bann gezogen, auch wegen ihrer Aktualität. Lethen schrieb das Buch allerdings vor Beginn des russischen Angriffskriegs.
Nachts von fiesen Politikern geträumt.
Helmut Lethen, Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen.
Das Buch steht ab Oktober in der Naturfreundebücherei Bad Emstal zur Ausleihe im Regal